Die Nacht hat von der Halle Besitz ergriffen. Dunkelheit hat sich dort ausgebreitet, wo tagsüber reges Treiben herrschte und Maschinen eine klangvolle Sinfonie mechanischer Töne erzeugten.
Das sonore Brummen, wenn der Kompressor den Druckluftspeicher füllt, das hochfrequente Pfeifen beim Spanen mit grossen Drehzahlen, das rhythmische Klopfen der Hämmer auf Stahl.
Wenn man genau hinein lauscht, hört man jetzt nur das ticken der zwei grossen Uhren, oben an den Wänden. Mitternacht ist längst vorbei und draussen scheint der fast volle Mond am sternenklaren Himmel.
Da ist es plötzlich wieder. Ein Geräusch, das einem das Blut in den Adern gefrieren lässt.
Es ist wie damals, in der dritten Klasse. Im Matheunterricht schreibt die Lehrerin eine Aufgabe an die Wandtafel. Dann, in der Kreide scheint etwas Hartes zu sein, gibt es dieses Quietschen, fast Kreischen, und sofort hat man eine Gänsehaut am ganzen Körper und die Haare stehen förmlich zu Berge.
In einem Film hat es Whoopi Goldberg genutzt, um die Aufmerksamkeit einer Klasse Teenager zu erlangen, indem sie mit den Fingernägeln über die Tafel zog. Erfolgreich genutzt, volle Aufmerksamkeit erhalten.
Also dieses Geräusch schwebt jetzt, mitten in der Nacht aber etwas leiser, wie gedämpft, durch die Halle. Es ist fast unmöglich die genaue Herkunft zu lokalisieren. Aber es scheint aus dem Bereich zu kommen, wo die eingegangenen Reparaturaufträge gelagert werden.
Hier werden Hydraulikzylinder repariert. Auf einem Gitter liegen diverse Zylinder, in unterschiedlichen Grössen, Gewichten und Farben. Ein buntes Durcheinander mit einer strukturierten Systematik. An manch Einem tropft gemächlich Öl aus offenen Anschlüssen. Langsam bildet es unter dem Gitter eine Pfütze und fliesst, der Neigung folgend, in das grosse Auffangbecken.
Das Geräusch scheint von dort zu kommen. An einem Zylinder ist die Kolbenstange halb ausgestossen. Chrom glänzt im schräg einfallendem Mondlicht. Doch es ist nicht der strahlende Glanz einer perfekt spiegelnden Oberfläche. Die Reflektion wird unterbrochen durch ungleichmässige Spuren im Metall.
Das ist die Ursache vieler notwendiger Reparaturen an der sonst eigentlich sehr zuverlässigen Hydrauliktechnik. Immer wieder kommt es zu diesen völlig unerklärlichen Spuren, im sonst so harten, fast unverwüstlichem Metall.
Gerüchte, Legenden und Vermutungen gibt es derer viele, wie es dazu kommen kann.
Aber es ist die „Nacht der Nächte“ und genau die Richtige um den Verursacher der Schäden zu entlarven. Es handelt sich eindeutig um Frassschäden. Und bislang hat ihn noch niemand zu Gesicht bekommen.
Ferrum timere vermis, der Eisenwurm.
Seit Beginn der Eisenverarbeitung begleitet er die Menschheit. Wahrscheinlich wurden die ersten Exemplare schon bei der Erzgewinnung mit in den Kreislauf der Eisenverarbeitung mit eingeschleppt.
Für diese Nacht wurde die Werkstatt vollelektronisch aufgerüstet. Hochgeschwindigkeits- und Wärmebildkameras, gekoppelt mit Bewegungsmeldern mit Ultraschallsensoren, alles ausgerüstet mit ultraleisen Mikromotoren.
Wenn nicht heute, wann dann? Und die Kameras erwischen ihn unbemerkt. Er fühlt sich angepasst und sicher in seiner natürlichen Umgebung. Kaum 5 mm lang, wirkt er riesig in den Makroaufnahmen. Die kugelförmigen Sinnesorgane, die unseren Augen ähneln, sitzen auf einem fast geometrischen Kopf. Die Fresswerkzeuge, die solche immensen Schäden verursachen können, sitzen wahrscheinlich auf der Unterseite des Kopfes. Die spiralförmige Musterung des Körpers wirkt transparent und man glaubt, durch den Wurm hindurchblicken zu können.
Langsam folgt die Kamera den eleganten, weichen Bewegungen und es entstehen spektakuläre Aufnahmen. Ins Sichtfeld gerät ein kleines Nest mit, offensichtlich frischem Nachwuchs. Es ist doch rührend wie sich dieses possierliche Lebewesen um seinen Nachwuchs kümmert. Wir vergessen einen Augenblick lang, welche Schäden jährlich durch diese Würmchen verursacht werden.
Ohne natürliche Feinde ist es fast seltsam, dass der Ferrum timere vermis nicht eher nachgewiesen werden konnte. Und das, obschon die Population sehr gross sein muss, wie immer wieder unerklärliche Schäden an Eisen- und Stahlobjekten beweisen.
Jetzt gilt es das Leben des Eisenwurms weiter zu beobachten und wissenschaftlich auszuwerten, mit dem Ziel den kleinen Schädling an andere Lebensräume zu gewöhnen.
Bildrechte: Amadeus Stur
Amadeus Stur, Jahrgang 1964, Randberliner, seit 2011 in der Schweiz.
Ich schreibe aus der Seele und wenn nur ein Leser ein Lächeln auf die Lippen bekommt, hab ich Erfolg.
„Ein bisschen bekloppt ist völlig normal“
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