Pflegende erzählen aus ihrem Alltag

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Pflegezeit ist hart und anstrengend – doch warum entscheiden sich so viele Angehörige trotzdem dafür? Antworten gibt die Buchreihe von Wiebke Worm über Pflegende Angehörige. Wir stellen hier den ersten Band vor. Er  ist recht unterhaltsam, rührend und absolut empfehlenswert, auch für Nichtpflegende.

Ein Buch von Pflegenden für Pflegende und zur Information für alle Nichtbetroffene: Wie stellt man sich dies vor? Eher deprimierend, traurig und trostlos, nicht wahr? Das ist es aber nicht. Wiebke Worm lässt in ihrem Buch “Wir bauen eine Brücke von uns, hinaus in die Welt” viele verschiedene Pflegende Angehörige zu Wort kommen – und diese haben erstaunliches, schriftstellerisches Talent! Es ist ein Genuss, die verschiedenen Schreibstile zu lesen und der persönlichen Eigenart der Autoren zu folgen.

Ein Buch, das fesselt, durch seine Authentizität, klare, schonungslose Worte und interessante Sichtweisen. Denn Pflegende Angehörige sind trotz ihrer täglichen Arbeiten, Last und Verantwortung natürlich Menschen wie Du und Ich. Sie haben eigene Gedanken, Träume, Wünsche, stellen Philosophien auf und lernen aus der neuen oder lange bestehenden Situation. Nicht wenige der zu Wort kommenden pflegen schon über 10 Jahre. Eine Last, die für Außenstehende untragbar zu sein scheint – und doch geht es irgendwie immer wieder weiter.

Aus vielen Zeilen spricht die Liebe zu dem erkrankten Ehepartner, zu dem eigenen Kind, dem Elternteil. Man merkt: Jeder der Autoren versucht das Beste aus der Situation zu machen! Der eine versucht es mit Humor und bringt seine kranke Frau jeden Tag zum Lächeln, die andere engagiert sich intensivst in der Politik und in den Medien, um die Situation für Pflegende Angehörige in Deutschland zu verbessern.

Bekommen die Pflegenden Angehörigen nicht Geld dafür?

“Ja, muss man denn etwas verbessern, die Pflegenden bekommen doch Geld”?, hört man immer wieder kritische Stimmen. – Nein! Das Geld bekommt der Pflegling und dieser kann es verwenden, wie er es braucht. Hilfe und Unterstützung sind dringend nötig. Besonders die Corona-Zeit hat gezeigt, dass die Pflegenden Angehörigen absolut überlastet sind. Sie müssen zuhause das leisten, was in einem Heim viele Mitarbeiter gemeinsam schaffen. Sie waschen, kochen, putzen für den Angehörigen. Sie erledigen seine Geschäfte, sprechen mit den Ärzten, verhandeln mit den Krankenkassen, leisten medizinische Versorgung und müssen obendrein für die psychische Verfassung des Patienten und sein Wohlgefühl sorgen. Ein bisschen viel, oder?

Und wenn alle Entlastungsmöglichkeiten wie Tagespflege oder Kurzzeitpflege durch eine Ausnahmesituation wie die Corona-Epidemie wegfallen, bedeutet dies, dass die Pflegenden Angehörigen auf dem Zahnfleisch gehen. Leider werden sie aber von Regierung und Öffentlichkeit nicht weiter beachtet. Denn die tägliche Schwerstarbeit findet ja zuhause, in den eigenen vier Wänden, statt.

Das Geld, was die Pflegepersonen von der Pflegekasse und Krankenkasse bekommen, ist ein Tropfen auf dem heißen Stein. Es geht eben nicht 1:1 an die Pflegenden Angehörigen über! Zuzahlungen für Therapien und Medikamente werden davon bezahlt, sowie alle möglichen Dinge, die zur Pflege notwendig sind, die aber von den Kassen nicht übernommen werden!

Auch verbraucht man in einem Pflegehaushalt oft mehr Strom und Wasser. Der Pflegling selbst entscheidet, wie er sein Pflegegeld einteilt und so bekommen die Pflegenden Angehörigen eben nur das, was übrig ist. Es gibt erstaunlich viele Pflegende Angehörige, die somit kostenlos die schwere Arbeit jeden Tag übernehmen! All das wird von den Pflegekassen ignoriert, denn die Angehörigen sind müde und erschöpft und nicht kämpferisch gesinnt. Sie gehen nicht auf die Straße und demonstrieren, weil sie gar keine Zeit und Energie dafür haben. Ebenso ist der bürokratische Aufwand für all die Anträge bei den Pflegekassen für die einfachsten und notwendigsten Hilfsmittel oft so nervenzermürbend, weil die Kassen so tun, als würden sie geschröpft oder die Pfleglinge würden Luxusdinge bestellen (wie einen funktionierenden Toilettenstuhl….), dass kein Pflegender Angehöriger mehr Kraft und Energie hat, um für seine Rechte auf die Barrikaden zu gehen.

Es bleiben nur noch Online-Petitionen (oft eher belächelt von den Entscheidern dieses Landes) um sich zu wehren und andere Online-Aktivitäten wie die Fb-Gruppe zum Verein “Pflegende Angehörige e.v.” von Kornelia Schmid: Fb-Gruppe Pflegende Angehörige.

Viele pflegen jeden Tag rund um die Uhr. Krankheit und Altersgebrechen machen niemals Pause. Ein Pflegender Angehöriger hat keine Dienstzeiten und kann sich wie Fachkräfte abends oder morgens seinem Privatleben widmen und vollkommen abschalten. Pflegende sind immer da, immer ansprechbereit und immer in Alarmbereitschaft. Und warum? Weil es bislang für viele keine bessere Pflegesituation gibt, als die lieben Angehörigen zuhause zu pflegen.

Pflegeheime sind natürlich kein Ersatz für ein Zuhause und die Bediensteten haben nicht nur einen Patienten, sondern viele. Schwer kranke oder alte Menschen brauchen aber sehr oft am Tage und in der Nacht Hilfe, Beistand oder Unterhaltung. Zudem ist ihr psychischer Zustand zuhause einfach besser. Ein wichtiger Punkt, warum viele zuhause gepflegt werden,  ist die Tatsache, dass die Pflege im Heim durchschnittlich 3.000-4.000 € / Monat kostet. Und die Pflegekasse zahlt nur beim höchsten Pflegegrad  5 ihre 2.500 € für einen Heimaufenthalt pro Monat dazu. Den Rest muss der Pflegling selbst aufbringen.
Hier eine Beispielrechnung aus dem Online-Heimrechner:

Ihr Ergebnis bei Pflegegrad 5:
Heimkosten 4137.12 EUR
Pflegesachleistung -2005.00 EUR
Ihr Eigenanteil an Heimkosten beträgt voraussichtlich: 2132.12 EUR!

So können es sich nur wenige Leute leisten ins Heim zu gehen, da die Pflegekasse viel zu wenig dazu zahlt. Eine 24-h-Pflegekraft ist auch nicht immer die ideale Alternative. So fehlt in manchen Wohnungen der Platz für ein extra Zimmer für die Pflegekraft, auf das sie ein Recht hat. Und zudem bekommt in diesem Fall der Pflegling nicht die volle finanzielle Unterstützung wie für einen Heimaufenthalt, sondern das Pflegegeld ist nur so hoch, wie es auch bei der Pflege für Angehörige ist.
Das bedeutet bei einem Pflegegrad von 3, bei dem die Pflegeperson oft nicht mehr alleine in der Wohnung bleiben kann und sich absolut nicht mehr selbst versorgen, zahlt die Pflegekasse ganze 545 € für die häusliche Pflege durch Angehörige.   Eine polnische Pflegekraft kostet pro Monat aber auch Minimum 1000 €. Es bleibt also vielen Angehörigen bei näherer Betrachtung gar nichts anderes übrig, als die Pflege zu übernehmen. Nimmt man einen Pflegedienst hinzu, gibt es mehr Geld für den Pflegling. Leider muss er aber in den meisten Fällen dann doch noch draufzahlen, denn die Pflegedienste sind so teuer, dass das Pflegegeld beispielsweise bei Pflegegrad 3 sind es 1298 €, nicht reichen. Das bedeutet, der Pflegedienst kommt zwar mehrmals am Tag, aber der Pflegling ist damit nicht rund um die Uhr versorgt. Für die restliche Zeit müssen die Angehörigen ran und die bekommen dann gar nichts mehr vom Pflegegeld.

Allgemein gibt es viel zu wenig Pflegeplätze in Heimen und das gesamte Pflegesystem würde zusammenbrechen, wenn nicht 75 % aller Pflegebedürftigen zuhause gepflegt werden würden.

Wie sieht die Pflege zuhause aus?

Wir bauen eine Brücke: von uns, hinaus in die Welt

Wiebke Worm, selbst pflegende Ehefrau, hat mehrere Pflegende Angehörige aus ihrem Alltag erzählen lassen. Herausgekommen ist eine schöne, berührende Anthologie, die im positiven Sinne ans Herz geht. Es sind sehr unterschiedliche Lebensgeschichten und Alltagssituationen. Der Leser wird nicht überfordert, sondern er wird verständnisvoll an die Hand genommen, doch einmal einen Blick in das Leben der Familien zu werfen.

Die Pflegenden schreiben Gedichte, Szenen zum Lachen mit ihren Lieben, mal nüchtern, mal emotional, mal mit sehr viel Weitsicht auf das große Ganze. Nicht nur die Pflegesituation ist ein Thema, sondern eher die Personen um die es geht.  Pflege bekommt mal ein Gesicht und wird nicht reduziert auf körperliche und pflegerische  Fakten. Eine Autorin, die heute ihre Mutter pflegt, beschreibt voller Stolz und Ehrfurcht das Leben ihres Vaters im Bergbau. Und so versteht vielleicht mancher Leser, warum Kinder im Erwachsenenalter ihre Eltern pflegen und nicht einfach ihrer Wege gehen.

Eheleute zeugen von einem unlösbaren Band, das sie trotz aller Umstände, Widrigkeiten und schweren Lasten zusammenhält. Sehr bewegend ist die Episode eines Ehemannes, der sich kurzzeitig in die Pflegerin seiner Frau verliebt, um dann am Ende wieder zu verstehen, dass er nur seine schwerbehinderte Frau liebt, die ihn doch nur hin und wieder mit einem Lächeln belohnen kann.
Warum erträgt man all das? Viele Pflegende Angehörige antworten: Aus Liebe. Aber es ist nicht nur das – es ist auch das Wissen, dass wir Menschen eben zu großen Taten fähig sind und dafür geschaffen! Es geht im Leben halt nicht nur um Karriere, Geld, Macht und Ruhm. Es geht um Menschlichkeit und Nächstenliebe. Viele haben das heute gänzlich vergessen und daher wird oft erbost auf Pflegende Angehörige reagiert. Denn sie sind auch ein unangenehmes Vorbild, das zeigt, dass man auch heute noch selbstlos leben kann. Ein Ideal, das in unserer leistungs- und geldorientierten Gesellschaft nicht gefragt ist.

Es wäre einfach wünschenswert, dass die Helden des Alltags – Menschen, wie Du und Ich – aus eigentlich ganz anderen Berufen kommend und sich aus Nächstenliebe für die Pflege entscheidend, mehr Beachtung und unbürokratische Unterstützung finden würden! Dass die Pflegekassen sie nicht wie Bittsteller und lästige Störfriede behandeln würden und dass die nichtpflegenden Angehörigen weniger kritisch, als helfend agieren würden.

 

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