Beschluss zur Selbstzerstörung Teil 3 (Kurzgeschichte von Louise Lunghard)

Gespräch 10

Therapeut: Er liebt sie.

Petra: Glauben Sie?


Teil 1: Beschluss zur Selbstzerstörung von Louise Lunghard (Satirische Kurzgeschichte) – Das Online-Magazin – so vielseitig wie das Leben (lesezeichen.rocks)
Teil 2: Beschluss zur Selbstzerstörung Teil 2 (Kurzgeschichte von Louise Lunghard) – Das Online-Magazin – so vielseitig wie das Leben (lesezeichen.rocks)

Therapeut: Mein Gott. Sie sind wie eine Ertrinkende, der man einen Strohhalm zur Rettung zuwirft. Klammern sich an einem Plastikstückchen fest, das nur aufgrund seines fehlenden Volumens über Wasser gehalten wird. Wie wäre es, wenn Sie anfangen ihre Arme zu bewegen und zur Abwechslung versuchen, aus eigener Kraft zu schwimmen?

Petra: Mich wundert immer weniger, dass ich noch nie jemanden gesehen habe, der Ihre Praxis verlässt.

Therapeut: Hatten wir dieses Thema nicht bereits abgehandelt?

Petra: Ich bin auf der Suche nach Liebe und Sie machen sich darüber lustig.

Therapeut: Finden Sie? Neben Ihrem Partnerportal gibt es noch zahlreiche weitere Portale, auf denen Menschen aller Couleur das Gleiche suchen wie Sie. Und für diese Suche nach Liebe und Anerkennung, stellen Sie sich aus, kehren ihr Innerstes nach Außen, prostituieren sich, machen sich verwundbar. Ein wunderbares Portal für jeden Narzissten ist übrigens facebook. Sammeln Sie sich doch dort ein paar Hundert Freunde zusammen, stellen Sie einige Fotos von sich ein, am besten mit high heels und kurzem Rock, und dann warten Sie auf die Kommentare, auf die Bestätigung Ihrer sexuell vorhandenen Reize. Wenn Ihnen das nicht hilft, dann weiß ich es auch nicht.

Petra: Ich habe keine Profilneurose.

Therapeut. Ach so. Entschuldigen Sie mein Unwissen. Ihre Suche nach Liebe kann doch nur die Suche nach sich selbst sein. Jeder andere Weg führt Sie zum Abgrund

Petra: Sie haben nicht zufällig eine Idee, wie sich Forderungen nach Sadismus und Maso-chismus mit dem Konzept Haar-fetischismus vertragen?

Therapeut. Zufällig nicht.

Petra: Sie wissen vermutlich auch nicht, wie ich mir in diesem Bereich theoretisches Wissen aneignen könnte? Einschlägige Literatur. So in der Art.

Therapeut: Ich bin mir sicher, Sie werden Lösungen finden.

Petra: In der Schweiz gibt es eine Adresse. Dort kann man sich einführen lassen. Ein Wochenendtrip. Vermutlich ein kostspieliges Ereignis.

Therapeut: Nichts ist zu teuer für die Liebe.

Petra: Und wenn ich für diese Art von Liebe nicht blechen möchte?

Therapeut: Ein schöner Ansatz! Sagen Sie mal. Werden Sie dafür eigentlich bezahlt?

Petra: Wofür?

Therapeut: Für Ihre Einsatzbereitschaft. Folgt möglicherweise bald der Besuch im Swinger Club?

Petra: Nein. Ich glaube nicht, dass er darauf steht.

Therapeut: Und stünde er darauf?

Petra. Es bleibt beim nein.

Therapeut: Ihr nein ist nichts wert, weil aus diesem nein in wenigen Tagen oder Wochen ein ja werden könnte.

Petra: Das ist Unsinn.

Therapeut: Hatten Sie in Ihrem bisherigen Leben bereits sado-masochistische Vorstellungen?

Petra: Nicht, dass ich wüsste. Ich habe mich aber auch nicht damit befasst.

Therapeut: Aber jetzt befassen Sie sich damit? Nur warum?

Petra: Vielleicht ruft mich etwas?

Therapeut: Könnte es auch jemand sein? Jemand, der keinen Namen hat? Könnte dieser jemand, der keinen Namen hat, Sie auch in einen Swingerclub rufen, wenn ihm daran gelegen wäre? Könnte er sie überzeugen, Dinge zu tun, die Sie nicht tun wollen, die Ihnen sogar möglicherweise schaden? Er könnte und das garantiere ich Ihnen. Und Sie wissen es so gut, wie ich es weiß!

Petra: Amen.

Therapeut: Ich überlasse Sie nun sich selbst, Ihrer selbst erdachten Freiheit. Denn Petra ist ein braves Mädchen und Petra wird tun, was man von ihr erwartet. Und es spielt keine Rolle, wo und wann Petra gelernt hat, brav zu sein. Das ist ganz uner-heblich. Ich bin bereit Sie zu begleiten, ich bin bereit Ihnen zuzuhören, ich werde Ihnen zur Seite stehen noch bis zum Untergang. Und Sie werden mich fragen: Warum haben Sie mich nicht abgehalten? Und ich werde sagen: warum hätte ich Sie abhalten sollen? Haben Sie nicht alles freiwillig getan? Machen wir doch mal ein kleines Assoziationsspiel!

Petra: Spielen wir nicht immerzu?

Therapeut: Aber Sie geben immer die Richtung vor und ich möchte doch auch mal meine Ideen einbringen.

Petra: Ich bewundere Ihre therapeutischen Fähigkeiten.

Therapeut: Danke für die positive Verstärkung!

Petra: Wie geht das Spiel, Herr Doktor?

Therapeut: Schließen Sie Ihre Augen. Stellen Sie sich vor, Sie sind er. Vor Ihnen ist der Kopf von Petra. Sie nehmen den Rasierer in die Hand. Sie beginnen Ihr Werk. Wie fühlt sich das an?

Petra: Nun, ich sehe einen kahlen Schädel.

Therapeut: Ich habe nicht gesagt, Sie beenden Ihr Werk, sondern Sie beginnen es. Jeden Schritt muss man Ihnen erklären!

Petra: Langsam, Herr Doktor, ganz langsam. Der erste Schnitt, der Rasierer streift über die Kopfhaut.

Therapeut: Sie tasten sich sehr langsam und behutsam vor.

Petra: Der Rasierer kratzt über die Haut oberhalb der Ohren. Ich sehe eine erste freie Stelle. Ganz weiße Haut.

Therapeut: Weiter.

Petra: Ich fühle die Angst in ihr, die Anspannung. Ich zittere vor Erregung. Man könnte auch sagen, ich bin ziemlich geil.

Therapeut: Auf was konkret?

Petra: Was soll ich Ihnen dazu sagen? Sie kapieren es ja doch nicht!

Therapeut: Aber ich bemühe mich ernsthaft.

Petra: Was ich bezweifeln möchte. Mir ist so klar, was Sie bezwecken, dass ich nicht weiß, ob ich lachen oder weinen soll.

Therapeut: Und was bezwecke ich Ihrer Ansicht nach?

Petra: Sie wollen nur nebenbei herausfinden, wie ich die Situation beurteile.

Therapeut: Ist das nicht legitim?

Petra: Sparen wir uns das Spiel. Ich gebe Ihnen freiwillig die Kurzfassung. Also. Indem er mich kahl macht, liefert er mich aus, macht mich verletzbar, um mich danach – hilflos wie ich bin – in die böse Welt hinaus zu stoßen, damit ich dort auf Menschen wie Sie treffe, die mich mit ihren Vorurteilen aburteilen.

Therapeut: Der erste Teil des letzten Satzes war immerhin recht aufschlussreich.

Petra: Dachte ich mir. Der Grund, warum er das macht, liegt natürlich auf der Hand. Ihm ist in seinem Leben ähnliches passiert. Böse Mutter, böser Vater, böse Geschwister. Alle haben den armen Kerl auf die ein oder andere Art und Weise gedemütigt – oder er hat es so empfunden – um ihn dann seinen Zweifeln, seinem angeknacksten Selbstwert zu überlassen, auf das er untergeht oder überlebt.

Therapeut: Prima. Eins und setzen.

Petra: Und jetzt wird es interessant. Denn die nächste Frage stellt sich: wie geht den die liebe, gedemütigte Petra mit ihrer neuen Situation um? Wird sie beim Blick in den Spiegel zusammenbrechen? Ist sie dem Druck von außen gewachsen? Lässt sie sich auf weitere Spiele ein?

Therapeut: Und?

Petra: Sehen Sie. Und das ist vollkommen unerheblich. Fest steht von vornherein. Dieses Spiel ist nicht zu gewinnen. Bricht sie zusammen, ist sie zu schwach. Hält sie durch, erweist sie sich als stark, bleibt aber trotzdem beeinflussbar, denn sie will ja weiter ihre Stärke beweisen. Daher wird sie weiter dominiert, bis sie doch noch untergeht und sich letztlich als schwach erweist.

Therapeut: Und was lernen wir daraus?

Petra: Nichts. Es könnte ja auch anders sein. Fragen Sie mich morgen noch mal und ich liefere Ihnen eine neue Version der Geschichte. Vielleicht will er dann herausfinden, was ich bereit bin, für ihn zu tun. Sie kennen ja diese Märchen. Die Prinzessin überwindet den Ekel und küsst den Frosch. Oder sie lässt sich mit dem Untier ein, das sich dann wiederum als Prinz entpuppt. Und dafür wird sie belohnt und bekommt nicht nur den Prinzen, sondern als Zugabe das gesamte Königreich dazu und Glück bis in alle Ewigkeit. So eben.

Therapeut: Und das wäre besser?

Petra: Das eine ist so gut oder schlecht wie das andere. Können Sie natürlich nicht sehen, weil sie alles bewerten müssen.

Therapeut: Sie möchten es lieber nicht bewerten, sondern hinnehmen?

Petra: Ich gebe Ihnen einen Rat. Wenn Sie heute Abend zu Hause sind, hören Sie sich Wagner an. Parsifal oder von mir aus Tristan. Hören Sie es sich an! Denn was Sie hören werden, ist der reine Wahnsinn. Da kommen die Dämonen aus der Dunkelheit zu Ihnen ins Wohnzimmer geflogen. Noch ehe Sie sich versehen, werden Sie in das Reich des Todes geführt. Das ist Todessehnsucht in extremster Form. Deshalb liebt man Wagner oder man fürchtet ihn. Und nun möchte ich von Ihnen wissen, wann hat es angefangen in mir, wann habe ich begonnen, mich meiner eigenen Zerstörung auszusetzen, übrigens wie viele andere Menschen auch, die Tag für Tag bis zur Erschöpfung arbeiten, die Drogen konsumieren, welcher Art auch immer, um auszusteigen oder durchzu-halten, Menschen, die in Swingerclubs gehen, um jede Grenze zu überschreiten. Und wissen wir nicht alle, irgendwo tief in uns, dass die Überschreitung der persönlichen Grenze tödlich ist und sei es nur mental? An diesem Zustand bereichern sich ganze Gesellschaften. Wissen wir das nicht, Herr Psychoanalytiker?

Therapeut: Also lehnen wir das Leben ab?

Petra: Das Leben ist nicht zu begreifen, indem man den Tod ausschließt. Und das wissen Sie so gut wie ich. Und trotzdem haben Sie es sich zur Aufgabe gemacht, das Leben auf Kosten des Todes überzu-bewerten. Das Leben wird aber gerade durch die Unausweichlichkeit des Todes interessant. Was wäre es denn, wenn man wüsste, es geht immer weiter? Jeden Tag scheint die Sonne, es gibt nur noch Gesundheit, alles ist wunderbar und für immer. Der menschliche Geist ist nicht geeignet, Begriffe wie Endlichkeit oder Unendlichkeit zu verstehen, auch wenn er sie erfunden hat.

Therapeut: Und was erwarten Sie dann von mir?

Petra. Dass Sie mich vor der totalen und frühzeitigen Zerstörung bewahren, dass sie mir helfen, die Grenze zu finden von leben und sterben wollen, weil ich das eine ohne das andere offensichtlich nicht ertrage.

Therapeut: „Die Absicht, dass der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten. Was man im strengsten Sinn Glück heißt, entspringt der eher plötzlichen Befriedigung hoch aufgestauter Bedürfnisse und ist in seiner Natur nach nur als episodisches Phänomen möglich. Jede Fortdauer einer vom Lustprinzip ersehnten Situation ergibt nur ein Gefühl von lauem Behagen; wir sind so eingerichtet, dass wir nur den Kontrast intensiv genießen können, den Zustand nur sehr wenig. Somit sind unsere Glücksmöglichkeiten schon durch unsere Konstitution beschränkt.“ Freud.

Petra: Immerhin haben Sie das jetzt verstanden.

Therapeut: Ein Happyend kann ich Ihnen aber nicht versprechen.

Petra: Wer will schon ein Happyend?

Kunst von Louise Lunghard, 2 Gesichter, bunt
Bild: Louise Lunghard

Gespräch 11

Petra: Sie saß auf dem hohen Lehnstuhl. Das sanfte Licht des Bades tauchte die Szene in einen unwirklichen Schleier. Ein Hauch von Musik drang an ihr Ohr, verzauberte ihr Gesicht, über das sich ein stilles, nach innen gerichtetes Lächeln ausbreitete. Er trat von hinten an den Stuhl heran, legte seine Hand sehr behutsam auf ihre Schulter und sprach: „Ab heute werde ich dich nie wieder berühren, wie ich dich berührt habe. Denn du bist mein Bild.“ Eine wonnigliche Welle der Seligkeit durchströmte ihren Körper, ließ ihn erstrahlen, in sanftem Schimmer erleuchten. Und der Herr sprach, es werde Licht und es ward Licht, denn die Sünden ihres Fleisches lösten sich im Schein der wärmenden Strahlen und alle Schuld wurde von ihr genommen. Einem Engel gleich, in Anmut erstarrt, nur noch Lichtgestalt, schwebte sie auf ihrem Thron der eigenen Anmut entgegen. In ihm machte sich grenzenlose Liebe breit, die Verehrung für ihre anbetungswürdige Reinheit ließ ihn den Atem anhalten. Auf Zehenspitzen entfernte er sich einen Schritt weit von ihr, kniete sich vor ihr nieder und huldigte ihrem heiligem Bild. Kurze Zeit später nahm er seine Kamera und machte einige Fotos.

Therapeut: Was Sie so alles erleben. Da sollten Sie ein Buch draus machen!

Petra: Das ist nicht witzig. Wir haben keinen Sex mehr. Er behandelt mich wie eine Ikone.

Therapeut: Nun, vielleicht hat er angefangen Sie ein wenig zu schätzen und kann Sie nicht mehr „benutzen“.

Petra: Wer sagt, dass ich mich benutzt gefühlt habe?

Therapeut: Habe ich von Ihrer Haltung gesprochen oder von seiner? Sehen Sie. Im Gegensatz zu Ihnen kann der Schöngeist die sexuelle Verlockung von der sexuellen Handlung abkoppeln. Aber Ihnen bleibt doch immerhin das gute Gefühl, dass er „danach“ auf Ihre Kosten kommt. Um es ein bisschen drastischer auszudrücken. Bei der Vorstellung, wie er sie rasiert hat, wird er sich einen runter holen.

Petra: Interessant.

Therapeut: Diese Vorstellung scheint Ihnen nicht zu gefallen.

Petra: Sollte sie?

Therapeut: Ich an Ihrer Stelle würde mich damit zufrieden geben.

Petra: Und wenn ich das nicht möchte?

Therapeut: Der Weg, auf dem Sie sich gerade befinden, ist eine Einbahnstraße, Frau Müller. Sie sind am Ende angekommen.

Petra: Was zu beweisen wäre.

Gespräch 12

Therapeut: Ihre Haare sind nachgewachsen. Ich sehe mindestens einen Zentimeter. Die Stoppelphase haben Sie hinter sich gelassen und die Biberphase erreicht. Fühlt sich bestimmt gut an, wenn man mit der Hand darüber streicht. Und der Vorteil ist: die Haare bleiben nicht mehr am Handtuch hängen, wie ein kratziger Bart.

Petra: Man möchte meinen, Sie haben ähnliche Erfahrungen gemacht.

Therapeut: Manches weiß man intuitiv. Gehen der Schöngeist und die Zerstörerin getrennte Wege?

Petra: Ich will keine Ikone sein.

Therapeut: Gerade jetzt, wo er beginnt Sie zu schätzen, geben Sie auf.

Petra: Auf diese Form der Schätzung verzichte ich dankend.

Therapeut: Dann ging es Ihnen also nie um die schönen Frisuren? Das ist bedauerlich und ich frage mich gerade, wen Sie mehr betrogen haben: ihn oder sich?

Petra: Ich habe niemanden betrogen. Es hat mir eine Weile gefallen und jetzt nicht mehr.

Therapeut: Wie fühlt es sich bei Ihnen denn „innen drin“ so an, ich meine, falls Sie sich fühlen?

Petra: Im Moment sind Sie der Letzte, dem ich das mitteilen möchte.

Therapeut: Das verwundert mich ausgesprochen.

Petra: Kann ich mir vorstellen.

Therapeut: Keine Leere in Ihnen, Verzweiflung, Fragen?

Petra: Ich könnte noch mal auf Ihr unmoralisches Angebot zurückkommen. Ein bisschen Wärme könnte ich durchaus gebrauchen.

Therapeut: Das wäre leider fatal. Auch dieser Weg ist uns verschlossen. Kennen Sie eigentlich den Unterschied zwischen einsam und alleine?

Petra: Ich habe Psychologie studiert. Immerhin ein paar Semester.

Therapeut: Es ist ein Unterschied zwei Begriffe per definitionem zu unterscheiden oder den Unterschied zu erleben. Nicht wahr?

Petra: Ich fühle mich nicht einsam.

Therapeut: Falls Sie auf die Couch möchten, Frau Müller, lassen Sie es mich wissen.

Petra: Nicht auf Ihre.

Gespräch 13

Therapeut: Was sehen meine betrübten Augen? Sie haben noch eine Runde auf dem Karussell der Hoffnung gedreht?

Petra: Ich habe eine Geschichte geschrieben. Darf ich sie Ihnen vorlesen?

Therapeut: Ich sterbe vor Neugierde.

Petra: Am 11. Dezember 2009 fand unter gewaltigem Anklang und tobendem Applaus die Dernière des Stückes “Schöngeist und Zerstörerin” in Merzbach statt. Die beiden Hauptdarsteller, denen die Spielfreude aus den Augen leuchtete, zeigten ein letztes Mal ihre unglaubliche schauspielerische Begabung und bewiesen in ihrer freien Inszenierung die hohe Kunst der Improvisation. Ein erster Höhepunkt, der die Zuschauer den Atem anhalten ließ, war erkennbar, als beide die Bühne betraten. Während die liebliche Sissi aus dem laufenden Fernseher im Hintergrund mehrfach “Franzl” hauchte, sank die Zerstörerin mit anmutiger Würde und einzigartiger Hingabe auf das auf dem Boden bereitete Lager, um dem Schöngeist, der sich am Kopfende niedergelassen hatte, ihr Haupt darzubieten. Als das Summen des Rasierers ertönte, war die Anspannung bei den Zuschauern kaum noch zu übersehen. So manch einer fragte sich bereits zu diesem Zeitpunkt, wie weit der Schöngeist an diesem Abend gehen würde. Nach einer Stunde spannenden Wartens ließ sich bereits deutlich erkennen, dass die letzte Vorstellung ihren Höhepunkt noch längst nicht erreicht hatte. Die kahlen Seitenpartien der Zerstörerin leuchteten weiß und rein im spärlichen Schein der Beleuchtung. Immer wieder reichte der Schöngeist der auf dem Lager Liegenden ein Glas Rotwein, um ihre trockenen Lippen zu benetzen und auch er selbst setzte, zur Unterstützung der künstlerischen Inspiration, mehrfach das Glas an. Als die Seiten und der Hinterkopf der Zerstörerin bis auf eine schmale Spur von ungefähr 6 Zentimetern (Irokese) durch vollständige Kahlheit glänzten, sagte der Schöngeist mit rauchiger Stimme: “Ich bin süchtig”. Die Zerstörerin, die mittlerweile zwischen seinen Schenkeln saß, um den kreativen Prozess zu erleichtern, erwiderte mit einem außergewöhnlichen Timbre in ihrer Stimme: “Dann sei süchtig.” Der absolute Höhepunkt, der die Zuschauer für einen Moment von den Stühlen riss, war wenige Minuten später erreicht. Mit glasigem Blick und unterdrückter Stimme, der zeremoniellen Atmosphäre adäquat, kaum noch Herr seiner Sinne, sprach der Schöngeist die edlen Worte: “Will die Kriegerin bestiegen werden?”, was die Zerstörerin umgehend mit einem Ausdruck von Leidenschaftlichkeit bejahte. Warum es in Folge nicht zu dem beabsichtigten Koitus kam, blieb dem Zuschauer zwar verborgen, ließ aber die aufgebaute Spannung ins Unendliche anwachsen. Zwei Stunden später konnte man die Zerstörerin einen Raum weiter im Nebel des heißen Wassers unter der Dusche betrachten, wie sie die minimale Spur ihres blau-schwarzen Haares (ungefähr auf einer Breite von 0,5 Zentimetern) liebevoll ein schäumte. Kaum der Dusche entstiegen, zitternd und in Handtücher gewickelt, bewies der Schöngeist noch einmal seine künstlerische Ader, indem er mit Hilfe einer kompletten Flasche Haargel und seinem Föhn die Umwandlung der Zerstörerin in eine starke Kriegerin vollbrachte, der die Kampfbereitschaft gegen den eigenen Untergang spätestens zu dem Zeitpunkt deutlich und voller Entsetzen im Gesicht geschrieben stand als sie sich des Ausmaßes der Zerstörung beim Anblick ihres Gesichtes im Spiegel bewusst wurde. Der point of no return war damit erreicht und die Kriegerin endlich bereit, den Kampf gegen sich selbst und die von innen angelegte Zerstörung aufzunehmen. Noch einmal wurde dem Wein zugesprochen und als der Schöngeist sagte, “jetzt werfe ich dich hinaus, morgen muss ich früh aufstehen”, rollte so manche Träne der Rührung und ein “oh” und “ah” ging durch die Reihen der Zuschauenden, die sich von der unerwarteten Melancholie vollkommen ergriffen zeigten. Eine überraschende Wende ergab sich zum Ende des Stücks als im Rahmen der ganz normalen Schizophrenie im Antlitz der Kriegerin wieder die Züge der Zerstörerin auf blitzten, die ihre zum Leben erwachte Kontrahentin lächelnd verhöhnte und die Aufforderung zum Kampf mit verachtendem Blick verweigerte. An diesem Punkt angekommen, zerfiel die eine Person (Kriegerin vs. Zerstörerin) auf spektakuläre, kaum zu schildernde Art, in zwei Teile. Die Zerstörerin floh in Windeseile von der Bühne, gefolgt vom Abgang der Kriegerin, die ihr nacheilte, um sie einzuholen, was dem Stück ein glaubwürdiges Ende verlieh, das mit frenetischem Beifall gewürdigt wurde.

Therapeut: Mir gefällt es nicht.

Petra: Egal. Es geht noch weiter. Die Kriegerin stürmte davon, sprang auf ihr Pferd, jagte atemlos durch den eisigen Wind, der an ihren kahlen Schläfen wie ein scharfes Messer brannte, und ritt in der Dunkelheit der Nacht über die ausgestorbene Steppe. Ihre blau schwarzen Haare, einem Hahnenkamm in höchster Kampf-bereitschaft nicht unähnlich, waren steil bis in den tiefen Nackenbereich hinein aufgerichtet. Mit einem rasenden Schmerz, der lodernd in ihrem Herzen aufflammte, peitschte sie ihr Pferd durch den aufsteigenden Nebel, der jede Sicht verwehrte, während die Hufe über den ausgetrockneten Boden trommelten wie die Paukenschläge eines Orchesters wahnsinniger Musiker. Nur Sekunden später durch fuhr sie ein Schmerz, der ihren Atem fast zum Stillstand brachte, jede Kraft wich aus ihrem Körper und im wütenden Galopp ihres Pferdes stürzte sie auf den Boden in ein Meer aus Feuer, das sich erbarmungslos durch sie hindurch fraß. Gekrümmt vor Schmerz und doch ungläubig, betrachtete sie den Speer, der zwischen ihren Rippen steckte, sie von innen verbrannte und ihr die Luft zum Atmen nahm. Mit letzter Kraft richtete sie sich auf, als die Zerstörerin ihr aus dem Nebel entgegen trat und ohne ein Wort auf sie zuging. Für einen kurzen Moment begegneten sich ihre Blicke. Und die Zerstörerin riss den Speer aus der fast toten Brust, in der das Herz die letzten Akkorde spielte, eine tödliche Melodie aus ersterbenden Klängen, die sich im Nichts des erwachenden Tages verloren. Die Arme ausgebreitet sank die Kriegerin auf den Boden. Ihre Augen, glühend und doch schon gebrochen, blickten zum Himmel hinauf, an dem sich im Licht des beginnenden Tages ein erstes Blau durch die grauen Wolken kämpfte. Aus der klaffenden Wunde strömte das Blut über das nackte Weiß der Haut, tropfte von ihrem Körper und versickerte lautlos in der gefräßigen Dürre des Bodens. Die Zerstörerin stand eine Weile, betrachtete das Bild, starr und bewegungslos, dann drehte sie sich um und ging ungerührt ihrer eigenen Zerstörung entgegen.

Therapeut: Mir gefällt es immer noch nicht.

Petra: Nachdem der Schöngeist die Haustür hinter sich geschlossen hatte, ging er zurück in das Badezimmer, reinigte akribisch den Braun, Serie 7, und entfernte auch die letzten Spuren des blau-schwarzen Haars. Noch berauscht von seinen Erlebnissen legte er sich in sein Bett und schlief bereits nach wenigen Minuten tief und fest. In der Nacht zogen die Bilder an ihm vorüber, auch die Fotos hatten sich bereits tief in sein Bewusstsein eingeprägt. Voller Wonne wälzte er sich in seiner Erregung, vergriff sich im Laken, verging sich lustvoll an seiner Bettdecke. Am nächsten Morgen stand er vom Schauer der Erregung noch überwältigt, leicht verkatert, aber vergnügt auf. Er ging in die Küche und bereitete sich einen Assam zu, ließ den Tee auf den Punkt genau drei Minuten ziehen, bevor er ihn heiß durch seine Kehle laufen ließ. Nackt wie er dem Bett entstiegen war, ging er zur Tür der Veranda, öffnete sie und lief barfuss über den ersten Frost des Grases zu seinem Teich, dessen Temperatur wenig mehr als sieben Graf betrug. Er sprang hinein. Für einen kurzen Moment raubte die Kälte ihm den Atem, doch bereits nach wenigen Sekunden durchschwamm er das Wasser in gleichmäßigen Zügen. Wenig später ragte sein muskulöser Oberkörper aus der Wasseroberfläche hervor. Er zog sich am Rand des Teiches hoch und stieg behände aus dem Wasser. Durchnässt und mit einer tiefen Zufriedenheit ging er in das Haus zurück. Sein Blick fiel auf sein Handy, das auf dem Esstisch lag. Er nahm es in die Hand und löschte die Fotos der letzten Nacht. In einer Stunde begann die Gesangsprobe für seinen nächsten Auftritt. Er hatte noch Zeit.

Therapeut: Mir persönlich wäre lieber gewesen, die Kriegerin hätte überlebt. Vielleicht auch keine ideale Spielfigur, aber immerhin.

Petra: Ich habe gekündigt und ich möchte Ihnen noch etwas vorlesen. “Ich glaube nicht, dass du verstehst. Es ist vielschichtiger als man denkt. Ich dachte Sex, ob wild am Teich, in einem Autobahnbiotop, einem offenen Cabrio in der Fahrt, nächtlichen Kapellenparkplätzen oder wilde Abenteuer beim Friseur mit radikalstem Ausgang, Ausleben meines Rasierfetisch, könnten mir Antworten auf meine fragende Suche geben. Nein, meine Lust ist nicht so, ich entdecke sie da, wo mein Herz entbrannt ist, nur da vermag ich zu küssen und zu liebkosen. Du hast mir geholfen, meine Gier und Lust nicht mehr zu verwechseln. Ich werde mich vom Sex eine Weile zurückziehen, um meiner Seele Zeit zu lassen, sich neu zu ordnen. Das ist nicht nur ein Rückzug von dir, es ist allgemein ein Rückzug von Affären. Wenn du möchtest, können wir freundschaftlich verbunden bleiben, auch deine Haarpflege kann ich weiter begleiten, aber in der Rolle des Friseurs.” Was sagen Sie dazu? Es ist alles vorbei und ich habe auch noch eine Herpes Zoster Infektion. Da sind nur zwei Pusteln. Eine auf dem Rücken, die andere auf dem rechten Oberarm. Man kann kaum was sehen. Ich habe ein antivirales Medikament bekommen und es tut trotzdem höllisch weh.

Therapeut: Ihr Körper zwingt Sie nun endlich, sich zu fühlen, Frau Müller. Denn nicht nur Ihr Körper schmerzt, auch Ihre Seele. Und wenn man den Schmerz der Seele nicht spürt oder übersieht oder nicht sehen kann, dann zeigt uns der Körper, wo wir stehen. Ich denke, es ist an der Zeit, die Therapie zu beginnen und uns auf die Suche nach dem zu machen, was in Ihnen ist. Was halten Sie davon?

Petra: Darf ich jetzt auf die Couch?

Bild und Text: Louise Lunghard

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ÜBER DEN AUTOR

Sigrid Lunghard, Künstlername: Louise Lunghard

Geburtsdatum: 20.6.1964

Wohnhaft in Bühl

Psychologiestudium (o.A.)

Erwerbsminderungsrente (MS)

Veröffentlichungen / Preise

Kurzgeschichten:

später

Hammer und Veilchen Ausgabe 8, 2016
Titel Kulturmagazin 2016
Bubenreuther Literaturwettbewerb 2016, Anthologie
Experimenta Juni 2017

Leben ohne Frank

Fluchtpunkt

Hammer und Veilchen, Ausgabe 12, 2017

Ausschnitt „Emmas längster Winter““

Förderband 17 „Brückenherzklopfen“ (Förderverein deutscher Schriftsteller)

Textbesprechung des 1. Kapitels meines 1. Buches im Literatur-Cafe:

Eine Textkritik am Rande des Abhangs

März – Juni 2017:

Arbeitsstipendium Förderkreis deutscher Schriftsteller Baden-Württemberg

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