Meine Schwester – Kurzgeschichte von Louise Lunghard

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Sie:  Niemand soll mir vorwerfen, ich hätte meinen Schwager nicht leiden können als ich ihn zum ersten Mal auf der Geburtstagsfeier meiner Schwiegermutter traf (als er noch nicht mein Schwager war, was sich allerdings ein paar Wochen später änderte), und meine Schwester mich fast täglich mit neuen Hiobsbotschaften beglückte.

„Weißt du, was ich herausgefunden habe? Mein neuer Freund ist ein unehelicher Sohn eines nahen Verwandten des letzten Deutschen Kaisers.“

Wir alle, ich, mein Mann, meine Mutter, mein Vater, die ganze Familie inklusive der Cousine meines Mannes hinter vorgehaltener Hand. „Das gibt’s doch nicht. Wirklich?“ Wir alle (inklusive der Freundin der Cousine meines Mannes) gespannt auf die Fortsetzung dieser Romanze, immer den gestreckten Daumen in der Luft. „Viel Glück!“

Denn so was kennt man ja. So was dauert ja nie lange und aus und vorbei. Aber meine Schwester. „Nun ja. Er ist zwar nur der uneheliche Sohn eines nahen Verwandten des Deutschen Kaisers, aber halt dich fest, dafür ist er ein richtiger Herzog.“

Wir schon Beklemmungen in der Brust, bei allem, was noch kommen konnte und meine Schwester: „Auf jeden Fall wurde er von einem Herzog und seiner Frau direkt nach der Geburt adoptiert. Und stell dir vor. Da ist er in einem Dorf, das direkt an der Weser liegt, mitten im Schlossgarten groß geworden, während die Herzogin, eine unglaublich schöne Frau mit Reiterstiefeln aus schwarzem Leder, ihn aus einem der sechshundertsiebenundneunzig Fenster des Schlosses stolz beim Spielen betrachtete. Falls ihr nichts dagegen habt, bringe ich ihn am Samstag mit auf die Party zu deiner Schwiegermutter.“

Wir alle (inklusive der entfernten  Freundin der Freundin der Cousine meines Mannes), wir alle mit pochendem Herzen auf dem durchgesessenen Sofa in einer Hinterhauswohnung mit fleckigen Tapeten und einem türkischen Hausmeister, der das ganze Stadtviertel mit einem ständigen Geruch nach Knoblauch versorgte, wir zusammengequetscht wie Sardinen in einer Dose, erwartungsvoll mit dem Kartoffelsalat auf dem Tisch und zwei Fässern Bier in der Küche.

„Wie so einer wohl aussieht?“ Die Cousine meines Mannes rückte auf dem Sofa hin und her, besorgt, dem Herzog könnte der selbst gemachte Matjessalat mit Sellerie und frischer roter Beete nicht schmecken. Die Tante meines Mannes zog ihr Taschentuch aus der Hosentasche, wischte sich über die feuchte Stirn, besorgt, dem Herzog könnten die Frikadellen mit den Zwiebeln nicht schmecken.

Mein Mann, das dritte Glas Bier in der Hand, besorgt, dem Herzog könnte das von einem Arbeitskollegen zubereitete Spanferkel nicht schmecken (das wir bei jeder Party bestellten, weil der Arbeitskollege meines Mannes sich am Wochenende in einer Metzgerei ein paar Mark dazuverdiente und wir das Spanferkel außerdem zum halben Preis bekamen, gut durchgebraten und mit einer wahnsinnig leckeren Kruste).

Wir also auf dem Sofa, den Blick zur Uhr. „Wann sie wohl kommen?“ Dann das Klingeln an der Tür wie ein Schuss in der Dunkelheit.

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Die Cousine meines Mannes rutschte auf ihrem Hintern vom Sofa, mein Vater kurz vor einem Herzinfarkt, lockerte den Kragen seines Hemdes, mein anderer Schwager (der zu dieser Zeit bereits mein Schwager war, aber nicht mehr mein Schwager ist, weil er sich Jahre später beim Waschen oder Schminken oder dem Frisieren einer Toten in eine seiner Angestellten verliebt hat, was zu einem Heidenkrach in der Familie führte und unendlich viele Diskussionen ausgelöst hat, über Moral und Verantwortungsgefühl und Pflichtbewusstsein und Versprechen und Glauben und Verrat, solche Sachen eben, zumal meine Schwägerin und ich und mein Mann und alle unsere Freunde daran gewohnt waren, einmal im Monat im Jagdhaus meines Schwagers, der nicht mehr mein Schwager ist, ein kleines Fest zu feiern: Geburtstag, Taufe, Beerdigung, Scheidung, Wochenende, Fußballweltmeisterschaft und so weiter, und meiner Schwägerin und uns nach der Scheidung nicht nur das Jagdhaus fehlte, sondern auch eine zweihundert Quadratmeter große Wohnung mit offener Küche und ausreichend Platz für eine große Familie mit vielen Tanten, Onkeln, Cousinen, Nichten und Neffen, und vermutlich fehlten meiner Schwägerin darüber hinaus, was ich nicht mit Sicherheit behaupten möchte, aber vermute, weil man sich an so etwas schnell gewöhnt, die Gesichter der Toten).

Mein Schwager also, der nicht mehr mein Schwager ist und nie wieder mein Schwager sein wird, noch nicht einmal, falls die Angestellte, die seit der Heirat keine Angestellte mehr ist, so blöd sein sollte, ihren Goldesel eines entfernten Tages zu verlassen, mein Schwager schritt unter dem angehaltenen Atem aller Beteiligten, sich an der Krawatte zupfend, ein Staubkorn beseitigend, das ich mit der Lupe nicht gefunden hätte, zur Tür, öffnete sie mit Beerdigungsschweigen und herein polterten zwei nebulöse Gestalten, von denen die eine aussah wie ein herausgeputzter Klon meiner Schwester, mit einem vom Haarspray verklebten Schopf und spinnen spinnenbeinlangen Wimpern, dazu in einem Glitzerkleid, das noch bei einem Empfang beim Bundespräsidenten Aufsehen erregt hätte, einem Klon, der mit unglaublich exaltierter Stimme von unten nach oben sprach.

„Wir hatten schon ein paar Gläschen in einer Bar und schwanger bin ich auch.“ Die Tante meines Mannes flüsternd. „Wenn ihr die Sache mit dem Herzog mal nicht zu Kopf gestiegen ist.“ Neben dem Klon meiner Schwester ein Geschöpf mit einem Gesicht wie aus einem dieser Scheidungsmagazine, die man zwischen einer Tönung und einer Dauerwelle beim Friseur überreicht bekommt (einem dieser Blätter mit einer Aktualität von ungefähr vierundzwanzig Stunden), neben dem Klon also ein Geschöpf mit einem Gesicht voll kaiserlicher Ausstrahlung und kaiserlicher Verachtung und kaiserlicher Überheblichkeit in Anbetracht der Nähe seiner Untertanen, der Nähe seiner Vasallen, die mit offenen Mündern als Anhänger einer untergegangen Monarchie bereit waren, ihm ewige Treue zu schwören.

Dann liefen alle durcheinander, Stühle wurden verschoben, Tische zur Seite gerückt. „Wenn Sie sich hierhin setzen möchten, junger Mann?“ Und. „Wenn wir früher gewusst hätten, dass wir so hohen Besuch bekommen, stünde der Champagner schon kalt im Kühlschrank.“

Der Herzog inmitten einer ihn umgebenden Begeisterung winkte dankend ab, „ich habe keinen Hunger, ich habe keinen Durst,“, der Herzog saß da, ein dampfendes Zigarillo zwischen den dünnen Lippen, gab spärliche Antworten auf unsere Fragen, äußerte sich karge oder wenig oder gar nicht zu unseren Feststellungen.

„Das ist die Kaisernase und noch ohne zu wissen, dass es sich um einen Urenkel unseres geschätzten Kaisers handelt, hätte ich allein an der Nase die verwandtschaftlichen Beziehungen herausgefunden. Und auch die Größe, das stattliche Auftreten, wirklich ganz der Kaiser. Es fehlt nur noch die Krone.“

Lachen Sie nur. Wir waren stolz. Stolz auf uns, stolz auf den Kaiser, der zwar nur ein Herzog war, aber trotzdem stolz auf uns, stolz auf meine Schwester, die wenn auch nicht als Kaiserin, aber immerhin als Herzogin Marlene in die deutsche Geschichte eingehen sollte (auch in Anbetracht dessen, dass uns allen ja noch die Scheidung meiner Schwägerin von meinem Schwager bevorstand, und mit ein bisschen Perspektive lassen sich auch die Tiefschläge im Leben besser verarbeiten. Finden Sie nicht auch?).

So stolz, stundenlang, tagelang, wochenlang und dann die Hochzeit in einem ganz gewöhnlichen Standesamt, mit einem ganz gewöhnlichen Standesbeamten, das Hochzeitsessen in einem ganz gewöhnlichen Restaurant mit dünner Suppe, fettem Braten und Wackelpudding, dazu ein Wein, der mir noch drei Tage später gegen die Schläfen hämmerte, und nichts zu sehen vom Vater des Herzogs und seiner Frau, nichts zu sehen vom Nachfahren des Kaisers, dafür Jahre später mehr Kinder als Stühle in einer bescheidenen Dachgeschosswohnung mit Fließendwasser, aber ohne Balkon und ein Geröll roter Zahlen auf dem Konto und Kreditkarten, die vom Automaten verschluckt wurden.

„Diese Karte wird einbehalten, wir wünschen noch einen schönen Tag und danken Ihnen für Ihr Vertrauen.“ Und ein Gerichtsvollzieher, in einen Anzug gekleidet, armselig wie sein Auftrag, klopfte vergeblich an die geschlossene Tür, hinter der meine Schwester mit den Kleinen hockte, „pst“, und schließlich ein Haftbefehl, die Androhung einer Unterbringung hinter Gittern, schwarze Schrift auf rotem Untergrund.

„Bitte gehen Sie sofort ins Gefängnis, gehen Sie nicht über Los, ziehen Sie keine tausend Euro ein, und vergessen Sie nicht folgende Utensilien mitzubringen, die Ihnen die Dauer Ihres Aufenthaltes verschönern werden: eine Zahnbürste, eine Tube Zahnpasta, eine Seifendose, ein Stück Seife, einen Waschlappen, zwei Handtücher, vier frische Unterhosen, ein Laken, einen Bettbezug.“ (Eine Auflistung wie bei einer bevorstehenden Klassenfahrt).

Und meine Schwester. „Ich gehe nicht ins Gefängnis, du willst doch nicht, dass ich ins Gefängnis gehe, noch dazu, wo ich völlig unschuldig bin und er alles gemacht hat.“ Sie tat mir wahnsinnig leid. Darüber hinaus hatte ich eine irrsinnige Panik bei der Vorstellung, dass die von der Fürsorge oder die vom Jugendamt oder die vom Gericht bei ihren Nachforschungen auf eine vermögende Tante stoßen könnten. (Na ja, vermögend ist übertrieben, denn Sie können sich ja vorstellen, was mir dank einer Endometriose und einer damit verbundenen absolut unerwünschten Kinderlosigkeit, die noch nicht einmal ansatzweise selbst herbeigeführt ist, und die mich zwang, Mitglied der Steuerklasse eins zu werden, was mir also vom Lohn meiner Arbeit am Ende eines Monats bleibt).

Trotzdem hätten die von der Fürsorge oder die vom Jugendamt oder die vom Gericht bei ihren Nachforschungen auf eine vermögende Tante mit unerfülltem Kinderwunsch stoßen können, einer Tante mit einem einhundertsechsundzwanzig Quadratmeter großen Haus auf einem dreihundertsiebenundsiebzig Quadratmeter großen Grundstück, dazu im Obergeschoss direkt neben dem weiß gekachelten Bad ein ganz in blau gehaltenes Schlafzimmer, blaues Bett, blaue Bilder, blaue Lampen, blauer Teppichboden, blau soweit das Auge reicht (blau wie ein Tag am Meer, wie der Rausch nach einer endlosen Nacht, wie ein Kater am frühen Morgen), einem eigens von einem Innenarchitekten eingerichteten Wohnzimmer, sehr modern mit einem irrsinnig teuren Sofa aus weichem Nappaleder und einem handgefertigten Esstisch aus Teakholz.

Aber der Innenarchitekt, der mir voller Stolz seinen Entwurf präsentierte, war absolut nicht vom Gegenteil zu überzeugen. „Wenn Sie den Tisch aus meinem Entwurf streichen, übernehme ich keine Garantien mehr für das Gesamtbild.“

Dazu zwei Arbeitszimmer, ein Bügelzimmer und ein Zimmer für besondere Notfälle (zum Beispiel für unerwartete Gäste, zum Beispiel für unerwartete Streitigkeiten), eine Küche mit Theke und Barhockern und ein Gartenhäuschen mit Garten. Sie glauben nicht, was es für eine Arbeit war, den Rasen in seinen jetzigen Zustand zu bringen, vorher überall Grasmilben und Maulwurfshügel und ein unterirdisches Wurzelwerk, unübersichtlicher als der Stadtplan von Rom.

Und ich konnte mir die Frau von der Fürsorge, vom Jugendamt, vom Gericht direkt vor meiner Haustür vorstellen. „Entschuldigen Sie bitte die Störung. Aber aufgrund Ihrer Verwandtschaft zweiten Grades möchte ich Sie bitten, Ihren Nichten und Neffen kurzzeitig Asyl zu gewähren.

Es soll nicht zu Ihrem Nachteil sein und es ist auch nur für ein paar Tage und falls sich die Angelegenheit in einigen Wochen nicht zu Ihrer Zufriedenheit geklärt hat, haben Sie ja ein schönes Haus mit viel Platz und auch noch Geld auf dem Konto, um für die Zukunft Ihrer Nichten und Neffen angemessen zu sorgen.“

Mir fielen die Lumpen ihrer Kleider ein, der Schmutz ihrer Schuhe, die klebrige Hinterlassenschaft ihrer Hände, das Ungeschick ihrer Finger, die gewellten Nägel ihrer Zehen, die struppigen Fransen ihrer Haare, und ich sah wie sie meine Rosenbüsche zertraten, das jahrelange Werk meiner Hände Arbeit im Lauf eines einzigen Tages zerstörten.

Deshalb sagte ich zu meinem Mann. „Dieses Jahr fahren wir nicht in den Urlaub.“ Gleich am nächsten Morgen füllte ich ein Überweisungsformular aus, schrieb eine siebenstellige Kontonummer, eine achtstellige Bankleitzahl und einen vierstelligen Betrag, der mir auf der Seele brannte, und ich machte auch noch ein Päckchen fertig.

Hosen verschiedener Größen, Pullover, Schuhe, Schokolade, Kekse, Bonbons, Taschengeld und legte eine Karte dazu. Viele Grüße von eurer euch sehr liebenden Tante Maui. Nachdem ich das Paket am Postschalter abgegeben hatte, ging ich noch vor Beginn der nächsten Bürobesprechung (einer unglaublich wichtigen Angelegenheit höchster Geheimhaltungsstufe), in ein nahe gelegenes Reisebüro und buchte drei Wochen Malediven, weil diese verregneten Sommer in Deutschland bei mir umgehend Depressionen verursachen,  von denen mein Arzt mir dringend abgeraten hat, „bei dem Stress, den Sie Tag für Tag haben, sind Depressionen gar nichts für Sie!“, und weil ich mich abgesehen vom Ratschlag meines Arztes außerdem gefragt hätte, wie ich das nächste Jahr ohne Sommerurlaub überstehen sollte, vor allem wegen der konspirativen Versammlungen mit meinem Chef in einem kleinen Kabuff verborgen vor den Augen der anderen, vor allem wegen seiner ständig wachsenden Forderungen.

„Mach mir mal einen Vorschlag, aber fünf Leute müssen wir irgendwie loswerden. Altersteilzeit, Abfindung, Mobbing oder falls dir noch etwas anderes einfällt: Du weißt ja, ich bin leicht zu überzeugen“, also wie ich das nächste Jahr bei einer so verantwortungsvollen Tätigkeit überstehen sollte, bei der fast täglich und wie zur Zeit der französischen Revolution Köpfe rollen, eine Schinderei, die mich noch im Traum verfolgt.

Große Köpfe, kleine Köpfe, Köpfe mit langen Haaren, grauen Haaren, vielen Haaren, Glatzen. Köpfe, wohin ich sehe. Köpfe, die mich fragend anstarren, weinend, lachend. Köpfe mit verzerrten Fratzen (falls Sie davon etwas verstehen, dann können Sie mir ja mal Bescheid geben, denn die Kopfträume gefährden so langsam mein inneres Gleichgewicht.

Vielleicht haben Sie ja ein paar Tropfen zur Hand, die ich nach dem Mittagessen einnehmen kann). Und meine Schwester (nach dem Paket, nach der Überweisung, aber noch vor der Waschmaschine) wahnsinnig dankbar.

„Das vergesse ich dir nie, ich schwöre es hoch und heilig.“ Meine Schwester wahnsinnig verlegen. „Dafür stehe ich für immer in deiner Schuld. Überleg dir schon mal, wie ich mich revanchieren kann.“

Und trotz der ganzen Dankbarkeit, trotz der ganzen Verlegenheit, musste ich mir ein paar Wochen später über eine Zeitungsannonce eine Putzfrau besorgen, die zweimal die Woche für vier Stunden kam, um mir das Haus in Ordnung zu bringen, eine Putzfrau mit der ich immer wieder Scherereien hatte und der ich mehr Briefe und Zettelchen geschrieben habe als Napoleon seiner Josefine oder Romeo seiner Julia, bevor sich die Putzfrau beim Herabstellen des Wäschekorbs (nach höchstens elf Wochen!) einen Bandscheibenvorfall zuzog und sich seitdem auf Nimmerwiedersehen davon erholt, in dem sie mir eine Heidenarbeit hinterlassen hat, fehlende Knöpfe an Hemden, faltige Laken, Ecken voller Staub.

Und trotzdem (trotz aller Dankbarkeit) brauchte meine Schwester kurze Zeit später eine neue Waschmaschine, lag mir jammernd in den Ohren. „Du wirst es nicht glauben, aber nach allem, was schräg läuft, hat gestern auch noch dieses Mistding den Geist aufgegeben,“ lag mir jammernd in den Ohren, als würde ich in einem Versandhaus arbeiten und nur auf den Eingang einer Bestellung warten.

„Bitte geben Sie mir die Artikelnummer durch, ich sehe sofort nach, ob die Waschmaschine vorrätig ist,“ Und wenige Tage später, obwohl ich, wie bereits gesagt, in keinem Versandhaus arbeite und auch zukünftig nicht beabsichtige in einem Versandhaus zu arbeiten, schickte ich ihr per Spedition eine Waschmaschine (Lieferung bis zur Haustür), die es wirklich in sich hatte, mit wahlweise sechshundert, achthundert, eintausend oder eintausendvierhundert Umdrehungen, achtundvierzig Monaten Garantie, ein Wahnsinnsteil, das Neueste vom Neusten, viel besser als der Schrott, der bei mir im Keller steht, einfach der absolute Renner mit Wollwaschprogramm, Knitterschutz und Intensivfleckenbehandlung, und meine Schwester lockte die von der Spedition, die sich mit irrsinniger Anstrengung durch den engen Tunnel eines Treppenhauses quälten und nach vielen Mühen endlich oben angekommen fast zusammenbrachen, in ihre Küche.

„Wissen Sie, mein Mann ist momentan auf einer Geschäftsreise“, (auf einer Geschäftsreise!!!) „und wenn die Maschine im Hausflur bleibt, kommen die Nachbarn ins Stolpern und es hagelt wieder Beschwerden vom Vermieter, und das kann ich bei vier Monaten Mietrückstand im Moment überhaupt nicht gebrauchen. Es sind auch nur noch ein paar Meter. Sehen Sie. Da sind wir auch schon, hier können Sie sie abstellen!“, drückte denen von der Spedition ein paar Münzen in die Hand, die mit Hilfe einer Messerklinge fast freiwillig aus der Spardose meines Neffen herausrutschten, „nehmen Sie!“,  ein armseliger Hungerlohn für zwei ausgewachsene Kerle, und meine Schwester am Telefon zwischen Briefen, Kündigungen, Tränen, Wutausbrüchen, Drohungen, „ich weiß nicht, was ich sagen soll, so ein tolles Teil habe ich noch nie gesehen, jetzt will ich nur hoffen, der Trockner hält noch eine Weile durch, der gibt in letzter Zeit so merkwürdige Geräusche von sich,“

Und ich kann nur sagen, nichts gerät so schnell in Vergessenheit wie humanitäre Hilfsleistungen, ob im Kongo, in Togo, in Kalkutta oder bei meiner Schwester mit ihren unzähligen Kindern, deren Namen ich mir nicht merken kann (weil mich vor zwölf Jahren ein Verrückter, der dazu doppelt so alt war wie ich und dem ich vorübergehend in tiefster Leidenschaft verfallen war, in einer wackeligen Ente auf einer fast einsamen Landstraße beim Versuch einen Laster zu überholen völlig unerwartet gegen einen Baum fuhr und der Flug durch die Windschutzscheibe den Inhalt meines Gehirns durcheinander wirbelte, alle Schubladen aus der Verankerung riss und ein heilloses Durcheinander hinterließ, an dessen Beseitigung ich noch heute arbeite), und auf Dankbarkeit verzichtend und ohne Erwartungen auf ein klitzekleines Geschenk schleppe ich jedes Jahr Weihnachten, von oben bis unten mit Paketen bepackt, kilometerweise Papier und Schleifen in die Bruchbude ihrer Behausung.

Und meine Nichten und Neffen (wie viele eigentlich?, drei, vier, fünf?, wie viele Jungen, wie viele Mädchen?) wie kleine Negerkinder mit aufgeblasenen Bäuchen, „gibs mir, gibs mir“, zerren an mir herum, an meiner Hose, an meiner Bluse, an meinem Blazer und die Pakete fallen aus der Hand, verteilen sich auf dem durchgetretenen Teppichboden und dazwischen Hände und Füße, Köpfe mit fransigen Haaren, und meine Schwester gelassen, ruhig.

Bild: Louise Lunghard

„Kinder, vertragt euch, es ist für jeden was dabei,“ und ein Geraufe und Gerangel und Geschlage, und schließlich tragen sie ihre Schätze in die dunkle, feuchte Höhle ihres Kinderzimmers, verriegeln die Tür (wer hier unerlaubt eindringt, wird umgehend erschossen) und meine Schwester mit schrägem Blick auf eine Tüte, die ich ihr feierlich überreiche, „ach danke, das wäre aber nicht nötig gewesen“, beäugt die Geschenke (einen selbst gestrickten Schal in schwarz-weiß-meliert, eine CD, die von Engeln handelt und wahnsinnig spannend ist, ein Jahreslos der Aktion Sorgenkind), beäugt die Geschenke als wäre sie die Kaiserin und ich die Kammerzofe, zieht den Schal mit spitzen Fingern und hoher Stimme aus der Tüte hervor.

„Nein. So eine Überraschung.“ Und ich (die ich fast unter Einsatz meines Lebens, erschöpft von der Arbeit, eigentlich nur noch ein Schatten meiner selbst, mit vom Zahlentippen auf eine Tastatur tauben Fingerspitzen, also unter Einsatz meines Lebens in der Dunkelheit der Nacht, kurz vor Sonnenaufgang, Fäden durch Maschen gezogen habe, immer links, rechts, links, rechts, drei Zentimeter, vier Komma fünf Zentimeter, dreiundzwanzigeinhalb Zentimeter), „gefällt er dir nicht? gefällt er dir nicht?“, da er mir auch nicht so recht gefiel, als er noch kein Schal war, aber ein Schal werden sollte, und ich wickelte mir den Schal, der noch keiner war, um den Hals, stiefelte zu meinem Mann, der gerade vor dem Fernseher saß, um auszuprobieren, wie viele Sender wir mit der neuen Antenne empfangen können und Sie werden es nicht glauben, es sind über Hundert, ich also zu meinem Mann, „findest du, dass mir das steht?, weil  ich mir nicht sicher war, weil schwarz-weiß meliert mich immer zehn Jahre älter aussehen lässt.

Kaum dass ich schwarz-weiß meliert trage, kommen umgehend ein paar Falten dazu, plötzlich eine Falte wie aus dem Nichts an der unteren Nasenwurzel, zwei quer über der Stirn, die vorher, und das schwöre ich mit allem, was dazu gehört, nicht da waren, und deshalb fragte ich meinen Mann.

Bild: Louise Lunghard

„Findest du, dass mir das steht?“ Und er gebannt von der Kraft unserer neuen Antenne, den Blick wie hypnotisiert auf den Fernseher gerichtet, auf die neue Fernbedienung in seiner Hand, die  sagenhaft schnell funktioniert, fast reicht es, sich nur Zahlen auszudenken und schon wechseln die Kanäle, so was haben Sie noch nicht gesehen, und mein Mann nur, „weiß nicht“, und ich dachte, wenn er sich nicht sicher ist und ich mir nicht sicher bin, wird es vielleicht das Beste sein, den Schal zu verschenken, weil ich auf zusätzliche Falten im Grunde wirklich verzichten kann (obwohl ich mir von unseren Reisen nach Amerika, Australien, Neuseeland und wo wir noch überall waren, vor lauter Reisen vergisst man immer so leicht, wo man gewesen ist, das kennen Sie ja bestimmt auch, obwohl ich mir also von unseren Reisen aus dem Duty-free-Shop regelmäßig einen Vorrat an Tiegeln, Tuben, Dosen, Flaschen mitbringe, man weiß ja nie, wie lange es bis zum nächsten Urlaub dauert), und ich zog mir das, was ein Schal werden sollte, von der Schulter, hängte noch ungefähr zwei Meter vierunddreißig an Wolle hinten dran, und meine Schwester beäugt die Geschenke als wäre sie die Kaiserin und ich die Kammerzofe, zieht den Schal mit spitzen Fingern und hoher Stimme aus der Tasche, „nein, so eine Überraschung“, und ich, verstehen Sie?, ich, degradiert zur Kammerzofe, zupfe ihr den Schal aus der Hand, wickele ihn um ihre Schulter, um ihren Hals, wickele sie von oben bis unten darin ein, wie einen toten Pharao bei den alten Ägyptern, und meine Schwester völlig sprachlos,.

„Ich sage nur, was für eine Überraschung.“ Aber schon wandert ihre Hand in die Tasche zurück. „Nein. Eine CD über Engel, das ist ja unglaublich, aber da ist ja noch was.“ Und meine Schwester wieder  wahnsinnig erfreut, „ein Jahreslos der Aktion Sorgenkind.“ (mit zwölf Hauptziehungen und monatlichen Gewinnen bis zu siebzigtausend Euro, dazu einem Hauptgewinn von fünfhunderttausend Euro!) meine Schwester wieder einmal wahnsinnig erfreut, „die Hälfte gehört dir, ich schwör es dir.“ Aber ich sage Ihnen. Ich habe da  meine Zweifel.

 

Louise Lunghard

 

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