„Wer hat Angst vorm bösen Wolf?“, wer kennt diesen weit verbreiteten Kinderreim nicht. Die Antwort lautet „Niemand!“ Doch in der Realität sieht es etwas anders aus: Kaum wird irgendwo im Lande ein Wolf gesichtet oder brechen eines oder mehrere Tiere aus Gehegen aus, machen nahezu hysterisch anmutende Diskussionen die Runde ob die frei laufenden Wölfe nun abgeschossen werden sollten oder warum nicht. Warum ist das so?
Der Wolf: ein Tier mit einem Imageproblem
Die Hysterie rund um den Wolf, die in mitteleuropäischen Gefilden regelmäßig ausbricht, wenn ein wildes Tier gesichtet wird oder Tiere aus Wildgehegen ausgebrochen (oder mutwillig freigelassen worden sind – man weiß es nicht), mutet umso seltsamer an, als der Wolf bei vielen Naturvölkern einen völlig anderen Status hat. Hier gilt er als Krafttier und als weiser Führer, auch aus dem Grund, weil sich Wölfe hervorragend an unterschiedliche Lebensräume und -bedingungen anpassen können.
Ist der Wolf gefährlich oder nicht? Das menschliche Verhalten macht den Unterschied
Es macht sehr wohl einen Unterschied, ob es sich um ein entlaufendes (oder frei gelassenes) Tier handelt oder um einen Wolf, der aus Polen, Tschechien oder Rumänien aus der freien Wildbahn eingewandert ist, um sich im deutschsprachigen Raum ein Revier zu erobern und ein Rudel aufzubauen. Letztere stellen für den Menschen keinerlei Bedrohung dar – schlicht aus dem Grund, weil sie dem Menschen aus dem Weg gehen. Sie fassen im Gegenteil uns Zweibeiner – allein aufgrund unserer Körpergröße – als Bedrohung auf.
Etwas anders verhält es sich mit Wölfen, die zuvor in Gefangenschaft gehalten wurden. Diese Tiere haben während ihrer Gefangenschaft vor allem eines gelernt: Der Mensch beschützt mich, der Mensch füttert mich, ich brauche keine Angst vor dem Menschen zu haben. Geraten sie – freiwillig oder unfreiwillig – in Freiheit, suchen sie also logischerweise die Nähe zum Menschen, wo sie leichter Futter bekommen und sich sicher fühlen. Hinzu kommt, dass die Besucher der Gehege Wölfe im Grunde als große Hunde betrachten. Die Besucher füttern die Tiere, locken sie an und – sollte sich eines der Tiere an den Rand des Geheges verirren – streicheln und kraulen sie das Tier.
Und plötzlich ist alles anders
Geraten diese Wölfe in Freiheit, muss es ihnen vorkommen, als seien sie auf einem anderen Planeten gelandet, weil plötzlich alles anders ist: Die Menschen, welchen sie begegnen, finden die Tiere nicht mehr süß und knuffig, sondern sie schreien, zittern, haben Schweißausbrüche und laufen weg. Die Menschen zeigen also das typische Angstverhalten von Beutetieren und wecken damit Urinstinkte des Wolfes, nämlich den Jagdtrieb. Richtig wäre ein selbstbewusstes Auftreten, das dem Wolf zeigt: Ich bin der Alpha und du kuschst… der Wolf wird kuschen.
Hier frage ich mich ernsthaft: Warum müssen Tiere sterben, nur weil der Mensch sich völlig falsch verhält? Die entlaufenen Tiere könnten nämlich ebenso gut nur betäubt und in ihre Gehege zurück gebracht werden. Einfach abknallen erscheint hier als die einfacher Alternative, weil weniger personalintensiv. Das mag im Einzelfall vielleicht auch gerechtfertigt sein, etwa wenn Kinder in Gefahr geraten könnten, rechtfertigt aber noch lange nicht die Tatsache, dass entlaufene Tiere gern mit Wölfen in einen Topf geschmissen werden, die ihr komplettes Leben in freier Wildbahn verbracht haben. Diese verhalten sich nämlich völlig anders.
Wie ist der Wolf wirklich?
Beim Wolf handelt es sich um das größte Raubtier aus der Familie der Hunde, die übrigens von Wölfen abstammen. Einst hatten die Wölfe, die in Rudeln, also Familienverbänden leben, die komplette nördliche Halbkugel der Erde besiedelt. Jedoch wurden sie ab dem 15. Jahrhundert durch den Menschen systematisch ausgerottet, sodass der Bestand stark dezimiert und in einigen Regionen sogar komplett ausgerottet war. Bestrebungen, den Wolf unter Schutz zu stellen, machten sich erst ab dem ausgehenden 20. Jahrhundert bemerkbar, sodass sich die Bestände mittlerweile wieder halbwegs erholt haben.
In freier Wildnis leben Wölfe in Rudeln, also in Familienverbänden, welches üblicherweise aus den Elterntieren und ihren Nachkommen besteht. Sobald die Jungtiere die Geschlechtsreife erreicht haben, verlassen sie in aller Regel das Rudel und machen sich auf die Suche nach einem eigenen Territorium, dem sie für gewöhnlich ihr Leben lang treu bleiben. Auf der Suche nach dem eigenen Territorium vermeiden die Nähe menschlicher Ansiedelungen für gewöhnlich.
Wie ist das Verhältnis zwischen Mensch und Wolf?
Grundsätzlich stellt der Wolf für den Menschen keine Gefahr dar. Er ernährt sich hauptsächlich von tierischer Beute, wobei er mittelgroße bis große Pflanzenfresser bevorzugt. Trotzdem ist das Verhältnis zwischen Mensch und Wolf äußerst differenziert zu betrachten. In der Frühzeit, als die meisten Menschen noch vom Jagen und Sammeln lebten, bewunderten sie den Wolf und verehrten ihn teilweise sogar als heiliges Wesen. Erst ab der frühen Neuzeit verbreitete sich die Angst und die Dämonisierung des Wolfes, unter anderem, weil die Bauern jener Zeit aufgrund der damaligen Viehhaltung erhebliche Verluste hinnehmen mussten. Ob das Vieh aber tatsächlich von Wölfen, von verwilderten Hunden oder missgünstigen Konkurrenten gerissen wurde, ist bis heute nicht gesichert… Schuld war in jedem Fall der Wolf. Angriffe des Wolfes auf den Menschen sind übrigens äußerst selten und haben oft ihre Grund in einer Tollwuterkrankung. So kam es in Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – also in einem Zeitraum von etwa 50 Jahren – gerade einmal zu neun Angriffen eines Wolfes auf den Menschen, die tödlich endeten – ähnliche Unfälle mit Nutztieren kommt es europaweit allmonatlich. Nur kommt halt keiner auf die Idee, deshalb sämtliche Kühe oder Pferde abknallen zu wollen.
Ich frage mich also ernsthaft: Muss es sein, ein Tier zu dämonisieren und auszurotten, das im Grunde nur eines will – sein Leben leben und in Ruhe gelassen zu werden?
Dass der Wolf ein Raubtier ist, das andere Tiere tötet, lasse ich in dem Zusammenhang nicht gelten. Den Schuh muss sich dann nämlich auch jeder anziehen, der sich sonntags genüßlich seinen Schweine- oder Rinderbraten einverleibt oder an Feiertagen den Rehrücken oder den Hirschbraten genießt.
Harry Pfliegl
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